Der Fahrtensegler hat Zeit

Gefühl und Verhältnis zu Zeit ist beim Fahrtensegler mit zunehmender Dauer der Schiffsreise verschoben. Er lebt nicht nach Ziffernblatt und Zeigern, vielmehr nach Sonnenstand, Mondphase, Tide, verdorbenem Gemüse, dem Zeitempfinden seiner argentinischen Frau und wenn gar nichts mehr geht, nach utc. Dem Fahrtensegler vergeht die Zeit nicht, sie verstreicht.

UTC (universal time coordinated)

Die einzige terrestrische und dem Fahrtenselger streckenweise (sic) konstante Zeiteinheit ist utc – parallel zu GMT (greenwich mean time) – ergo die gängige Aufteilung der Zeitzonen rundum den Globus.

Langweile ich Euch? Falls ja, geht direkt zur vegetabel time….

Falls nicht….

Der Einfachheit halber leben Fahrtensegler, vor allem wenn sie untereinander kommunizieren wollen, nach utc, weil nautisch gesehen relevant. Auf langen Schlägen lebt man danach, aber nur sofern es nicht nach anderen, maritimen oder himmlischen Konstanten gehen kann. Schwer ist, sich unter heutigen Fahrtenseglern, die auf AIS, GPS, Radar und dgl. zurückgreifen können, wie weiland Winnetou und Old Shatterhand, verabreden zu können: “Wenn die Sonne zwei handbreit ueber dem Horizont steht, wird Charlie seinen Freund Winnetou am “aching knee” wiedersehen” (Bacardi hat sich übrigens daran angelehnt – “two fingers”. Tief genug ins Glas geguckt, gilt es auch ein Horizont).

Also, wo war ich… ach ja, also heutige Fahrtenselger wissen meist nicht mit dem Sextanten so genau umzugehen, um nach genauerem Koppeln zwischen Seesternen, Quallen, Gestirnen, der Sonne, dem Neigungswinkel der Fluke eines Wals sich so exact zu verabreden, um die gegenseitige Position durchzugeben und sich am Funk zu verabreden. Da muss schon ein bissl Technik, weil Elektronik, herhalten.

Vegetabel time

Jeder gute Fahrensegler bedient sich lokaler Früchte und Gemüsesorten. Du kannst es überall nachlesen, dass macht, neben seglerischen Fähigkeiten, einen guten Fahrtensegler aus – he supports the local dealers. So werden grüne Tomaten, Zitusfrüchte und Annanas, akute Knollen, herzförmige Kartoffeln, verschieden gestreifte Paprika geparkt, Oregano, Basilikum und Korreander in Töpfen von einer ärmlich aber glücklich dreinblickenden Frau vom Markt gekauft und bestmöglich am Schiff verstaut. Oft geht man mit mehr nach Hause, als man eigentlich nachgefragt hat. Eine win-win Situation nach westlich-ökonimischen Standards. Der deal besiegelt sich zwischen dem gold-bekronten Lächeln der Markfrau und dem des Fahrtenselgers, Privatversicherung, 95% Refundierung der Zahnarztleisung – quasi all inclusive.

Logistisch listig im Schiff verstaut, verliert der Fahrtensegler schon mal im Laufe der Wochen den Überblick. Erst macht sich ein bestimmter, allerdings unbestimmt zu lokalisierender Geruch breit. “Irgendwo hier….” rätselt die Crew, aber egal, die 48-h-Regel wird angewandt (die treue Leserschaft weiß hier mehr).

Dann, man liegt nächtens in seiner Koje, tropft es nass runter und man erkennt haarscharf: Die Ananassens habens nicht geschafft. Und als darunter in der Koje Liegender drängt sich eine Frage auf: Soll ich mich morgen drum kümmern oder sofort? Wie sehr steigert sich der Suppfaktor in den nächsten h? Und, wird es meine Bettwäsche stark beeinträchtigen? Oder müssen die Zitronen schon mal vorreiten, weil ohne die Ananas könnten sie’s schaffen.

Ein relevanter zeitlicher, als auch olfaktorischer Faktor ist die Halbwertszeit von Grünzeug. Man weiß zwar, dass die Zitronen, grün gekauft seinerzeit auf Teneriffa, genau 35 Tage gehalten haben, allerdings hat man auch den Zeitpunkt übersehen, aus ihnen Nutzen (z.B. Für Cuba-Libre) zu ziehen. Der Fahrtenselger macht abends einen Logbucheintrag: Heute sind die Ananas durchs Netz in den Jordan gefault. Dies wissend werden wir die nächsten in der Dose kaufen.

Argentine time

Der Umstand, dass eines der Crew-Mitglieder aus einem anderen, weil südamerikanischen Erdteil kommt, bringt für die verbliebene Crew neue Impluse, weil dazu genötigt, dafür Verständnis zu haben.

Wenn Gui sagt: “Ich brauche noch 2 Minuten” kann man getrost nochmal Kaffeewasser aufsetzen, ein Buch beginnen und fertiglesen oder mit dem Stricken eines Winterpullovers beginnen. Passend dazu sollten Handschuhe und Schal auch noch drin` sein.

Auf der RR ist es eine gängige Frage, nach welchem Zeitempfinden man sich zu richten hat. Öseterreichische oder argentinische 2 Minuten. Ein für den kleinen Fahrtensegler verständliches Maß, hat der gute alte Albert E. schon Recht – Zeit ist relativ und wird vor allem individuell empfunden.

As time goes by

Apropos Zeit, meine auf der RR neigt sich dem Ende. Da ihr das lest, befinde ich mich schon auf der Rückreise nach Berlin. Meine Aufgaben bzw. einer meiner größten Wünsche für dieses Leben, für Tage nur Wasser und Himmel zu sehen, Wind, Wetter und Wellen zu nehmen, wie sie kommen, haben sich erfüllt. Jetzt ist es wieder an der Zeit, meine mal eben zur Seite gelegten Lebens- und Beziehungsfäden aufzunehmen und weiter zu leben.

Und es wird anfangs, zurück in urbaner Zivilisation, schwierig werden. Das Trinkwasser kommt aus dem Hahn, ich brauch ihn nur aufdrehen und nicht mit der Fußpumpe arbeiten. Keine Zu- und Abwasserhähne auf oder zudrehen bei der Benützung von Bad und Toilette. Und, stehen Kaffeebecher und/oder Bierflasche auch sicher, wenn ich sie auf dem Tisch abstelle? Und, ich sags ehrlich, das Schaukeln, das wird mir fehlen.

Schwierig wird aber auch, nicht mehr alle verderblichen Abfälle einfach hinterrücks ins Meer zu schmeißen. Jene, an deren Esstisch ich mich künftig als Gast aufhalte, bitte ich um Nachsehen, falls Hühnchenknochen und Brot- oder Essensreste bestenfalls am Boden, schlimmstenfalls an der Wand kleben.

Kein Lippen- oder in diesem Fall Fingerkuppenbekenntnis: Ich bin Euch, Gui, David, Viola und Bruno sehr dankbar für diese Reise/Zeit.

Jene, die schon Erfahrung mit/beim Segeln haben, werden verstehen, dass solch Gelingen kein Selbstverständnis ist. Begrenzter Raum, wenig Rückzugs- und Entfaltungsrefugium und vor allem keine gemeinsame Erfahrung, ob die Chemie stimmt – da kann mitunter unheimlich was aufbrechen.

Meinen letzten erzählenswerten Eintrag werde ich im Blog der Kira posten, da auch wir Gemeinsames erlebt haben.

Es grüsst sehr herzlich und dankt fürs Lesen,

Euer Schiffsjunge

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2 Responses to Der Fahrtensegler hat Zeit

  1. Max says:

    Danke an den Schiffsjungen für die vielen insights und die unterhaltsame Prosa!

  2. fernundnah says:

    Hier schreiben Heini und Mark. Wir wollten nur bescheid sagen, dass der Schiffsjunge wieder auf festem Boden ist. PS: Er friert übelst und trägt drei Strumpfhosen, weil ihm so kalt ist.